aus: Hamburger Bahnhof - Prinzip Collagemontage, 1989
Susanne Weirich, Tokyo Rose, 1989
von Eugen Blume
Eines Tages ist inmitten des Kriegsgeschehens im Pazifik eine weibliche
Stimme zu hören, eine Stimme, deren Klang Tausende von amerikanischen
Soldaten in Atem hält und sie träumen läßt
von einem weiblichen Wesen, das dieser Stimme zugehört. Es
ist die Stimme der japanischen Propaganda, eine, wie sich später
herausstellt, synthetische Stimme, zusammengesetzt aus verschiedenen
Frauenstimmen: "Tokyo Rose is a composite of several Worrien."1
Von dieser Episode ausgehend erzählt Susanne Weirich in drei
Kapiteln die Geschichte der sprechenden Frauen und ihrer Medien:
I. DIE UNIVERSALITÄT DES SEUFZERS
II. DER STROM DER SPRACHE
III. DIE SPUR DER STIMMEN
Es ist ein Bilderspiel aus Diagrammen, Landkarten, Gemäldereproduktionen,
Schrifttafeln und Illustriertenfotos, dem Ton- und Textmontagen
unterlegt sind.
Der Seufzer ist eine dramatisierte Form des Atmens. Der Seufzer
ist Poesie noch bevor bekannt ist, warum er ausgestoßen wird.
Naturformen wie dem Wind wird das Seufzen ebenso unterstellt wie
dem traurigen oder glücklichen Menschen. Seufzen ist eine besondere
Form des Atmens. Im Atmen realisiert sich eine ganzheitliche Beziehung
zur Weit, Atmen ist Synonym für Leben: -Atmung ist unmittelbare
und unaufhörliche Verbindung mit der Weit. Einatmend und ausatmend
bleibt das einzelne Individuum als ein Teil mit dem ganzen verbunden.
Zwischen ruhenden Frauen die Unendlichkeit des Kosmos, zwischen
dem auf Landkarten verzeichneten Lauf der Winde Atemkurven und zwischen
zwei geöffneten Mündern der Satz: "Unmittelbares
Erleben ist leider stumm; es weiß nichts von sich, weil es
nicht reflektiert."
Der Wind verfängt sich als Seufzer in der zum Trocknen aufgehängten
weiblichen Unterwäsche und der wehenden Gardine in Adolph von
Menzels Balkonfenster. Dazwischen das französische Wort "soupir",
Ausdruck einer der Erotik und Eleganz der Szene angemessenen Sprache.
Die Verbindung von Bild und Wort, das poetische Spiel mit dem Bezeichneten
und Bezeichnenden, wie es René Magritte und Marcel Broodthaers
entworfen haben, ist der stimulierende Motor von Susanne Weirichs
collagiertem Material. Was sich hier geheimnisvoll zu einer Geschichte
zu verbinden sucht und doch wieder auseinanderfällt. ist keine
rationale Untersuchung. Das positivistische Versprechen, einen Beitrag
zur Geschichte sprechender Frauen zu liefern, wird nicht eingelöst.
Es scheitert an der Poesie. Was bleibt, ist die Empfindung eines
undefinierbaren Zustandes, wie er sich in dem "Ach" der
Alkmene in Heinrich von Kleists Amphitryon als Laut in den Raum
stellt. Die Geschichte dieses Seufzers beginnt in der Akropolis
in Athen, fliegt über die Welt hinweg, um in einem Dialog zwischen
einer Sprachforscherin und einem Theaterregisseur in der Gegenwart
anzukommen. Der Seufzer wird wissenschaftlich analysiert, als Verlauf
der Luft durch Lippen und gewölbte Zunge.
Im zweiten Kapitel wird die Geschichte von sieben Mädchen erzählt:
"Kürzlich liefen sieben Zigeunermädchen von zu Hause
davon. Sie konnten lesen und schreiben, sie kannten das Fernsehen
und wollten nicht mehr aus der Hand lesen wie ihre Mutter. -Eine
von ihnen, die Älteste, ist lphigenie, die Tochter von Klytämnestra
und Agamemnon. Die blutige Geschichte von lphigenie ist verwoben
mit den wunderbaren Erlebnissen von Alice hinter den Spiegeln. lphigenie
schmiedet ein "Sprachschwert", eine "Wortwaffe".
Die Schwestern von Alice, Charlotte, Emily und Anne, spinnen "Sprachfäden".
"16 Jahre weben sie an ihrem Wortteppich. 19 000 Worte allein
für das Geheimnis." Auf einem der Bilder sieht man das
Werk Richtkräfte (Kat.Nr. 294) von Joseph Beuys, ein Geheimnis
aus 100 Tafeln mit Leuchtkasten und Hasenbild. Auf einer der Tafeln
ist zu lesen: "Make the secret productive."
Im letzten Kapitel nähern wir uns Tokyo Rose, der unbekannten
Stimme über dem Pazifik. Vielleicht ist es die Meerjungfrau
Undine, "die Sprachgewaltigste unter den Elementargeistern",
oder eine unbekannte Frau, die ihre Sprache verloren hat. Sprache
als Meer, Sprache als Geheimnis, Sprache als Klang, Sprache als
Liebe, Sprache als Besitz, Sprache als Verlust und Sprache als Gewalt
und Befriedung: "Only the strongest memories remain. Memories
of battle and boredom and real moments of relief like a softly feminine
voice from Radio Tokyo." Die Erweiterung der Sprache durch
das Bild und die Erweiterung des Bildes durch die Sprache nicht
im rationalen Sinne, sondern im Geist des poetischen Geheimnisses
ist das Thema von Tokyo Rose, einem Bildgedicht in vierzig Minuten.
Anmerkung
1 Alle Zitate im Text stammen aus dem Manuskriptbuch zu Tokyo Rose.
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