aus: www.regioartline.org, 5.09.06
Auf dem Rücken der Kunstgeschichte
von Annette Hoffmann
„Everything is wrong!“ – der von einem Werk Henrik
Plenge Jakobsens entlehnte Titel knallt und soll es auch. Nichts Geringeres
als alle Kritiker der zeitgenössischen Kunst zum Verstummen bringen,
will die in Lausanne lebende Kuratorin Antonia Donzé-van Saanen.
Nur, dass weder der Ort noch die Ausstellung selbst diese offensive
Verteidigung nötig haben. Dies spricht für eine weitgehende
Unkenntnis des Ausstellungsraums, mehr noch für zwei gänzlich
unterschiedlich funktionierende Kunstszenen innerhalb der Schweiz.
So argumentationsschwach Donzé-van Saanen ihr Konzept im Katalog
entwickelt, so bildmächtig und anregend präsentiert sich
ihre Schau jedoch in der Kunsthalle Palazzo. Denn eins haben die 15
ausgewählten Künstler gemeinsam, sie beziehen sich auf die
Kunstgeschichte als Fundus, den sie mal ironisch plündern, mal
auf den Kopf stellen oder mit zeitgenössischen Darstellungsformen
verbinden. Und so fragt man sich bei einem Rundgang durch die Liestaler
Ausstellungsräume nicht, was falsch sein könnte, sondern
auf welche Vorlagen die Künstler sich berufen.
Einen sehr komplexen Bezug hat Susanne Weirich gewählt. Ihrer
Rauminstallation „Elle ne perd pas le Nord“ aus dem
Jahr 1998 liegt die „Carte du tendre“ zugrunde, die
Madeleine de Scudérys Romanheldin Clélie drei Verehrern
gibt, damit diese zur „Zärtlichkeit“ finden können.
Ein galant-erotisches Spiel und eine Kartografie der sexuellen Eroberung,
bei der man Hochmut, Stolz und Misstrauen tunlichst meiden sollte,
nicht aber das „Meer der Intimität“, während
sich am Horizont der 1660 geschaffenen Illustration das „gefährliche
Meer“ zwischen den „unbekannten Erdteil“ schiebt.
Der Kavalier aber, der sich vom „Billet galant“ zum
„Billet doux“ und einem großen Herzen sowie Respekt
und Hochachtung zum Ort der Zärtlichkeit hocharbeiten soll,
muss im Roman orientierungslos bleiben. Zwar sind alle Begriffe
als konkrete Orte kenntlich, doch fehlt der Karte das Bezugssystem
der Himmelsrichtungen. Eben hier setzt Weirich ein, einige Sujets
des Stiches hat sie als Wandzeichnung übernommen, die sie auf
die vier Wände des Raumes verteilt. Daneben projiziert sie
im wechselnden Rhythmus Texte, die sich mit Orientierung und Kartografie
befassen. „Zur besseren Übersicht unterscheidet man drei
Stufen der Klarheit“, liest sich da plötzlich, dann taucht
wieder ein roter Punkt auf, wie man ihn von Übersichtskarten
kennt, die man als Tourist konsultiert. So reflektiert „Elle
ne perd pas le Nord“ über das Verhältnis von sinnlicher,
körperlicher Wahrnehmung und der Abstraktion der Karte wie
über die verschiedenen (auch historischen) Darstellungsformen
von Raum.
Restoration works: von der Rekonstruktion der Vorbilder
Christian Gonzenbach hat sich hingegen mit der Gattung des Stilllebens
befasst. Eine ganze Serie ist so entstanden, die sich eng an die
niederländischen Küchenstillleben anlehnt, wobei die des
Schweizer Künstlers alles anderes als still sind. Das Arrangement
bleibt erhalten, die toten Tiere sind jedoch animiert. Das kann
grotesk-komisch sein wie bei „Stillleben mit Schafskopf und
Fliege“, in dem die Kulleraugen eines enthäuteten Schafkopfes
die Fliege verfolgen, die ihn piesackt, das kann tragisch sein wie
im „Stillleben mit Taube und Brombeeren“, das die Agonie
eines gerupften Federviehs inmitten von Pfifferlingen, Tomaten,
Beeren und Granatäpfeln zeigt. Das zum Lebensmittel versachlichte
Tier wird zum Akteur einer Nature morte und eines Momento mori.
Meist sind die Bezüge der ausgewählten Werke jedoch subversiver
und ironischer. Man weiß um die Traditionslinie, in die man
sich einreiht und nimmt alle Erklärungen vom Ende der Malerei,
respektive jeder anderen Kunstform, gelassen hin. So hat Marc Bijl
Robert Indianas bekannten Schriftzug „Love“ in „Porn“
umgewandelt. Elodie Pong inszeniert vor einem depressiven Kurambiente
Botticellis „Die Geburt der Venus“, indem sie in einem
muschelförmigen Bassin als Liebesgöttin posiert. Jane
Brettle stellt in ihrer Reihe „Restoration Works“ Fotos
bekannter Kunstwerke neben die von jungen Mädchen von ähnlicher
Attitüde. Das mag ein wenig schematisch sein, vergleicht man
aber Canovas Skulptur „Paolina Borghese als Venus Vectrix“
mit Olivia, die Brettle im Jahr 2000 in ihrem Jugendzimmer in Cheltenham
aufgenommen hat, erkennt man durchaus Ähnlichkeiten. Und Mona
Hatoum hat in ihrer Fotografie „Van Gogh’s Back“
die charakteristischen Wirbel des Malers in einen behaarten Männerrücken
gelegt. Das ist mehr als eine spaßige Randnote. Um die zeitgenössische
Kunst muss man sich auch weiterhin keine Sorgen machen. Man kann
auch auf dem Rücken der Kunstgeschichte Neues schaffen.
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