aus: TAZ, Im Gespräch, 12.02.1998


Prismenwenderin
Susanne Weirich arbeitet als Künstlerin mit Text und Materie


von Annelie Lütgens


Die Künstlerin Susanne Weirich hat etwas, das in ihrer Branche selten ist: ein Faible für die Sinnlichkeit von Text. Das bedeutet, ihre Arbeiten zeugen von der Begabung, in Texten - seien sie trivialer, literarischer oder wissenschaftlicher Art - Bilder aufzuspüren. "Schrift, Bild und Stimme", sagt die 1962 geborene Absolventin der Kunstakademie Münster und Meisterschülerin von Timm Ulrichs, "sind verschiedene Formen, in denen sich Sprache materialisiert." Weirichs sprachliche Fundstücke wiederum materialisieren sich in Installationen. Oft sind es fiktive Ready-mades, in denen alltägliche technische Apparate eine tragende Rolle spielen. In "Die Sammlung des Parrhasios", einer Arbeit, die 1995 in der Potsdamer Galerie MitteIstraße zu sehen war, hört der Rezipient aus einem Walkman Beschreibungen illusionistischer Gemälde des 17. Jahrhunderts. Die Rahmen an der Wand bleiben leer, von der Stimme beschworen entsteht das Bild allein vor dem geistigen Auge.
Und wer im vergangenen Herbst in der Galerie Wohnmaschine den Hebel eines "Trostspenders" bediente, wurde außer mit einem veritablen Papierhandtuch auch noch mit akustischen Zitaten aus Hollywoodfilmen belohnt, in denen die jeweiligen Protagonisten über Körperflüssigkeiten (Blut, Schweiß, Tränen, Sperma) und wie man sie beseitigt redeten.
"Sechzig Sonette" heißt Susanne Weirichs neueste Arbeit. Dahinter verbirgt sich das Kunst-am-Bau-Projekt für die von Max Dudler erbaute Gesamtschule in Hohenschönhausen. Hier hat die Künstlerin Prismenwender eingesetzt. So nennen sich jene Apparate, die als Werbeträger im Straßenraum fungieren. Firmen, die Prismenwender statischen Plakatwänden vorziehen, spekulieren darauf, daß wir in unserem Großstadtrevier, wie einst unsere jagenden und sammelnden Vorfahren in der Steppe, darauf geeicht sind, eher das wahrzunehmen, was sich bewegt, als das, was stillsteht. Weirichs zwanzig Prismenwender, in einem Korridor der Schule installiert, fallen nicht gleich als Kunst ins Auge. Die graulackierten, beleuchteten Kästen haben jeder etwa die Größe einer Übersichtstafel für Fahrpläne. Sie sind in Blöcken zu je vier Stück vor dem Sekretariat, dem Lehrerzimmer, der Bibliothek sowie der Chemischen und Technischen Sammlung angebracht. Auch sind es keine bunten Bilder, die, durch die Prismen bewegt werden, sondern Textzeilen.
Bei ihrer Textarbeit spricht Susanne Weirich von "Modulen, weil die einzelnen Textbausteine sowie unterschiedliche Drehfolgen immer neue
Kombinationsmöglichkeiten ergeben", Flaubert, Eco, Borges, Mallarmé, Alexander Kluge, Augustinus, Flann O'Brien: Die Literaturliste, die ihrem Textsampling zugrunde liegt würde einer Uni-Abschlußarbeit zur Ehre gereichen. Doch diese Textstücke sind alles andere als trockene Lesekost, sondern appetizer für die Phantasie. miteinander verbunden
durch die Form des Sonetts, dessen Kombination aus zwei Vier- und zwei Dreizeilern in Schulen lange als ideale Gedichtform zum Auswendiglernen galt.
"Sechzig Sonette" zeigt, daß Kunst am (Schul-)Bau längst nicht mehr Wandbild im Treppenhaus oder Skulptur im Pausenhof heißen muß. Susanne Weirich hat ihr Projekt Mallarmés Forderung, ein Buch solle ein bewegliches Bauwerk sein, einfach umgekehrt und dem Bauwerk ein bewegliches Buch vom Schlage' Raymond Queneaus "Hunderttausend Milliarden Gedichte" eingepflanzt. Und zu guter Letzt haben auch die
Passanten etwas davon. Denn durch die langgestreckte, gläserne Fassade des Dudler-Baus sind die Prismenwender auch von der Straße aus zu sehen. Wer stehen bleibt und gute Augen hat, kann sogar mitlesen. In ihrer nächsten Arbeit, das hat sich Susanne Weirich fest vorgenommen, sollen keine Texte vorkommen. Das werden wir im Juni in der Galerie Borgemeister strengstens überprüfen.