Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.2009

Wollen wir ihn reinlassen?
Mit dem Facettenauge der Fliege sehen: Die Hamburger Kunsthalle will aus Charles Mansons Ritualmord Kunstgeschichte machen und stößt überall auf das Jahr 1969

Im Sommer 1969 schickt Charles Manson, Kopf einer kalifornischen Aussteigerkommune, drei seiner Jüngerinnen aus, um im nahe gelegenen Los Angeles wahllos einige Bewohner des Villenviertels zu ermorden. Im gleichen Jahr wird in Jerusalem die Künstlerin Sigalit Landau geboren, Andreas Baader und Gudrun Ensslin sitzen in einem Pariser Café und rauchen, der neunjährige Peter Friedl zeichnet in Österreich eine Landkarte von Amerika, die Raumkapsel Eagle landet auf dem Mond, und in Düsseldorf tippt die Fluxus-Künstlerin Chris Reinecke ihr Pamphlet "Kunst muss sein" in die Schreibmaschine.

Außer ihrem historischen Datum haben diese Vorkommnisse nicht viel gemeinsam. Und was sie verbinden soll, hat man auch beim Verlassen der Hamburger Kunsthalle noch nicht begriffen, die diese Ereignisse jetzt zu einer Ausstellung zusammengeschnürt hat. "Man Son 1969. Vom Schrecken der Situation" ist die Schau überschrieben - in Anspielung auf Charles Manson, der seinen Namen gern als Hinweis auf den neuen "Menschensohn" gedeutet hat.

Zweifellos sind solche Themenausstellungen wichtige Abwechslungen in der routinierten Folge der Künstlerretrospektiven. Das Hamburger Projekt führt aber auch sämtliche Probleme vor, die eine halb kunstgeschichtliche, halb zeithistorische Perspektive mit sich bringt. Denn einerseits werden hier Arbeiten als Zeitdokumente präsentiert, andererseits wird die Autonomie der Kunst als Vorwand benutzt, um unter dem Label "1969" alles Mögliche zu versammeln. Das Konzept, so die Kuratoren, lasse sich am besten wie ein Essay betrachten, der auf den roten Faden eines gemeinsamen Fluchtpunkts verzichtet, "ähnlich dem Facettenauge einer Fliege".

Da die Mehrzahl der Besucher die Ausstellung aber durch Menschenaugen betrachtet, fällt es schwer, das eigentümlich flirrende Sehfeld der Schau zu fokussieren. Die beiden überzeugendsten Arbeiten nähern sich dem Thema aus der Distanz medialer Nachinszenierungen. Susanne Weirich erinnert an die Selbstdarstellung der drei Mörderinnen von Los Angeles, die zum Entsetzen der Öffentlichkeit als singende Blumenkinder in den Gerichtssaal einzogen. In Weirichs Installation "Angels in Chains" kehren sie als sphärisch entrückte Gesichter in Ton und Bild zurück und verschmelzen mit den Darstellerinnen der Hollywoodserie "Drei Engel für Charly".

Stephan Huber lässt die Geschehnisse als Marionettendrama wiederauferstehen. Kasperl hat eine Zeitmaschine gebaut, aber die einzigen Reiseziele, die ihm einfallen, heißen "Frankfurter Schule" und "Love and Peace". In Frankfurt trifft er auf Theodor W. Adorno, der in der Bibliothek des Instituts für Sozialforschung einen Vortrag über die Entfremdung des Menschen hält. Der arme Kasperl versteht kein Wort, steigt in die Zeitmaschine, reist weiter zu Andy Warhol, Timothy Leary und den wilden Manson und nimmt auf dem berühmten Rockfestival in Altamont schließlich ein tragisches Ende. Der Zeitgeist der Sechziger findet bei Huber in der Übersichtlichkeit einer Puppenstube Platz.

Auf der anderen Seite der Skala stehen Arbeiten, die tief in die Bestände des Realen greifen. Teresa Margolles lässt Menschenfett auf den Boden tropfen und spielt über Kopfhörer den Lärm aus einem forensischen Institut ein, der durch das Zersägen eines Schädels erzeugt wird. Almut Linde verwendet für ihre Soundinstallation die Stimme einer neunjährigen Prostituierten, die irgendwo an der deutsch-tschechischen Grenze Kinderlieder singt. An der Wand des ansonsten leeren Raumes hängt ein mit bunten Comic-Tieren geschmückter Brief eines anderen verkauften Mädchens, das von der Ahnung schreibt, seine Verwandten nicht mehr wiederzusehen. An den rätselhaften Bezug zum Jahr 1969 hat man sich an dieser Stelle der Ausstellung bereits gewöhnt. Aber die beiden Biographien, die hier anzitiert werden, lassen ein Schicksal erahnen, dessen Recycling im Kunstsystem nur danebengehen kann. Die Künstlerin hätte besser daran getan, auf diesen zweifelhaften Realitätseffekt zu verzichten.

Auffallend viele der Objekte stammen aus der ständigen Sammlung des Museums, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht ihre thematische Passung für diese Wahl entscheidend war, sondern die angenehm kurzen Transportwege im Haus. Anders ist nicht zu erklären, dass sich neben dem "Frauenmörder" von George Grosz auch ein Schmerzensmann von Meister Franke aus dem Mittelalter in die Ausstellung verirrt hat.

Ansonsten gibt es viel Kombiniertes und Montiertes, eine Begegnung von Duchamp und Adolf Hitler und den allgegenwärtigen Sound von Filmen und Installationen, deren Tonspuren ein wenig nervig ineinander fließen. 1969 scheint kaum irgendwo nicht zu sein. Kasperl, schick uns deine Zeitmaschine! Natürlich ist von einer Kunstausstellung nicht zu erwarten, dass sie Ordnung simuliert, wo es historisch keine gegeben hat. Aber die Konsequenz daraus heißt nicht, im Zeichen des Facettenauges auf ein Konzept zu verzichten.

Man Son 1969. Vom Schrecken der Situation. In der Hamburger Kunsthalle bis zum 26. April. Der Katalog hat 167 Seiten und kostet 9 Euro.

Peter Geimer